Die
grünen und die grauen Felder (Ursula Wölfl)>>>
Sie wohnten
weit weg von hier, die eine Juanita und die andere Juanita. In
Südamerika wohnten sie, und ein großes Meer liegt
zwischen hier und dort. Zuerst
wohnte die eine Juanita im Dorf auf dem Berg. Ihre Eltern hatten
dort ein kleines Haus, das war grau wie die Steine vom Berg.
Sie hatten auch
zwei Felder, die waren ebenso grau von Staub und Steinen. Alle
Felder dort oben sahen so aus. Die Erde war so trocken, dass kaum
etwas wachsen konnte, nur ein bisschen Weizen und ein paar kleine
Kartoffeln, gerade genug für die Familie: Für den Vater
Pedro und die Mutter Ines, für die Kinder Juanita und
Rosita. Gerade genug wuchs dort, aber manchmal auch zu wenig.
Dann kochten sie Bananensuppe ohne Mehl, einfach nur mit Wasser.
Für eine Stunde wurde man satt davon. Die
andere Juanita wohnte unten im Tal in dem schönen Haus
hinter der weißen Mauer. Ihre Eltern hießen "der
Herr" und "die Dame", und ihr Bruder Alonso hieß
"der junge Herr". Ihnen gehörten die grünen
Felder im Tal, die Zuckerrohrfelder und der Bananenwald. Auch die
vielen Lastwagen und die Zuckerfabrik gehörten ihnen. Im Tal
gab es genug Wasser, da waren die Felder fruchtbar und saftig
grün. Alle grünen Felder gehörten diesen Leuten
aus dem Haus hinter der Mauer. Vielleicht
gehörten ihnen auch die Leute im Dorf? Der einen Juanita kam
es so vor. Denn die Eltern und alle Dorfleute arbeiteten den
ganzen Tag in der Zuckerfabrik. Was da oben auf ihren grauen
Feldern wuchs, reichte nicht aus. Sie brauchten auch Geld für
Kleider und Schuhe, für Hüte gegen die Sonne und für
Petroleum oder Kerzen, damit sie abends nicht im Dunkeln sitzen
mussten.
Die eine Juanita
und die andere Juanita trafen sich dreimal. Einmal
kletterte die eine Juanita auf die weiße Mauer, und sie
sahen das schöne Haus dahinter und den Garten mit den
Blumenbeeten, den Tennisplatz und den Reitplatz, das Schwimmbad
mit dem blauen Wasser und am Haus die Terrasse unter einem
gläsernem Dach. Die andere Juanita saß auf einer
Schaukel, sie las ein Buch. Die
Juanita auf der Mauer flüsterte: "Wie schön ist
das Mädchen! Was für ein feines Kleid! Und sie kann
lesen! Und sie heißt Juanita, wie ich!"
Rosita nickte nur.
Ihr Mund stand offen vor Staunen. Da rief die andere Juanita:
"Weg da! Runter von der Mauer!" Die Kinder erschraken.
Sie rutschten von der Mauer und rannten nach Hause.
Ein anderes Mal
ritt die andere Juanita mit ihrem Bruder auf den Berg. Sie hatte
rote Reiterhosen an und eine weiße Bluse.
Die eine Juanita
spielte mit Rosita am Weg. Sie bauten aus Zweigen und Pappe ein
kleines Haus für ihre Puppen. Die
andere Juanita sagte zu ihrem Bruder: „Hübsches
Mädchen, aber so schmutzig!" Sie
sagte das so laut, dass die Mädchen es hören konnten.
Dann ritten die beiden weiter, und die ein Juanita schämte
sich. Großmutter
Maria hatte ihre Kleider gewaschen, es war nur keine Farbe mehr
in dem Stoff, die Sonne hatte alle Farben ausgebleicht, darum
sahen die Kleider grau aus. Rosita schämte sich nicht, sie
war noch zu klein. Bald
darauf bekam die eine Juanita einen kleinen Bruder. Er wurde
Pedro getauft, wie der Vater. Sie
feierten am Sonntag ein Fest, alle Dorfleute kamen dazu, sie
sangen und tanzten und redeten und tranken. Vater Pedro sagte zu
den Männern: "Ich habe von einem anderen Dorf gehört,
dort haben sich alle zusammengetan und Wasserleitungen gebaut.
Ihre Felder sind fruchtbar geworden. Jetzt verkaufen sie Tabak.
Sogar einen eigenen Lastwagen haben sie. Alle lernen lesen dort,
die Erwachsenen und die Kinder. Sie brauchen nicht mehr für
die Leute im Tal zu arbeiten, sie arbeiten für sich selbst."
Darüber
redeten die Männer die ganze Nacht, und die Frauen und
Kinder hörten zu. Juanita
konnte nicht einschlafen, als die Großmutter sie ins Haus
schickte. Sie musste über alles nachdenken.
Als die Sonne
wieder aufging, redeten die Männer noch immer. Sie sagten:
"Von heute an gehen wir nicht mehr ins Tal! Wir bauen
Wassergräben und eine richtige Straße. Wir arbeiten
nur noch für uns selbst! Aber
dann ritt der Verwalter aus dem Tal herauf, und als die Leute ihn
von weitem sahen, rannten sie ihm entgegen. Vater
Pedro rannte auch. Juanita sah es. Wie ein Esel rannte er, und
die Mutter lief ihm nach. Da spuckte Juanita aus dem Fenster
hinter ihnen her. Zwei
Stunden später kamen die Eltern wieder zurück. Mutter
Ines weinte, und Vater Pedro fluchte. Er
sagte: "Irgendein stinkender Lump hat uns verraten. Es ist
verboten, so zu reden wie heute Nacht. Die armen Leute sollen arm
und dumm bleiben, damit sie gern für ein paar Pfennige im
Tal arbeiten. Wir sind entlassen, für immer. Was sollen wir
tun? Die Steine hier oben fressen? Wir gehen in die Hauptstadt.
Ich werde dort Arbeit finden." Großmutter sagte nichts
dazu. Rosita tanzte vor Freude und rannte ins Dorf und erzählte
den anderen Kindern, dass sie jetzt ein Stadtmädchen werden
sollte. Sie dachte nur an die schönen Läden in der
Stadt und an den Betrieb in den Straßen. Juanita weinte.
Sie wollte hier bleiben, sie wollte nicht in die fremde große
Stadt. Mutter
Ines schnürte das Bettzeug zusammen. Sie knotete die Töpfe
und Schüsseln in ein Tuch und die Kleider in ein anderes
Tuch, und Großmutter Maria nahm das hölzerne Kreuz von
der Wand und die Hochzeitsbilder von den Eltern und den
Großeltern. Am
Abend gingen sie fort. Sie gingen zu der Bushaltestelle im Tal.
Großmutter
trug den kleinen Pedro und das Kreuz. Vater Pedro hatte das
Bündel mit dem Bettzeug und Mutter Ines das Bündel mit
dem Geschirr. Rosita trug die Puppen und die Hochzeitsbilder und
Juanita das Bündel mit den Kleidern. Zuerst
war Juanitas Bündel leicht, dann wurde es immer schwerer.
Denn Juanita
sammelte Steine vom Weg, viele graue Steine tat sie in das
Bündel. Die anderen sahen das nicht, Juanita ging weit
hinter ihnen, und es war auch schon alles dunkel.
Als sie an de
weißen Mauer entlang gingen, warf Juanita die Steine
hinüber: drei auf den Tennisplatz, fünf in das blaue
Schwimmbad, die drei dicksten auf den Reitplatz und alle anderen
auf die Wege. Sie
lachte dabei, sie dachte: Hoffentlich habe ich alles gut
getroffen! Die andere Juanita soll über diese Steine
stolpern, sie sollen ihr im Schwimmbad die Füße
aufreißen, sie sollen ihr Pferd stürzen lassen, Blut
soll auf ihre schöne weiße Bluse tropfen!
Dann wohnten sie
auf einem anderen grauen Berg am Rand der großen Stadt.
Sie hatten eine
Hütte aus Blech und Brettern. Tausend solcher Hütten
gab es dort, und mit den Menschen wohnten Ratten in den Hütten,
und stinkendes Wasser stand auf den Wegen. Die
Stadt mit den schönen Läden und bunten Straßen,
die Stadt mit den Gärten und schattigen Bäumen, die
Stadt mit den freundlichen Leuten war unten im Tal. Sie sahen am
Abend die Lichter, und manchmal hörten sie Musik aus den
Cafés. Vater
Pedro fand keine Arbeit in der Stadt, nur die Mutter arbeitete in
einer großen Wäscherei. Sie waren jetzt noch ärmer
als vorher. Großmutter
Maria meinte, Juanita sollte nun zur Schule gehen. Aber Juanita
wollte nicht. Sie war jetzt immer matt und traurig und hatte
Heimweh nach dem Dorf. Jeden
Tag lief sie zur Stadt hinunter. Sie bettelte.
Unten im Dorf traf
sie die andere Juanita dann zum dritten Mal. Sie erkannte sie
sofort. Sie saß mit ihrem Bruder in einem offenen Auto, das
stand auf einem Parkplatz. Die
andere Juanita kam ganz nah heran. Sie sah der anderen ins
Gesicht. Aber da war keine Schramme, keine Narbe. Es hatte nichts
genützt, das mit den Steinen. Die andere Juanita sagte zu
ihrem Bruder: „Da ist ein Bettelmädchen. Gib ihm
etwas, damit es weggeht!" Der
junge Herr Alonso nahm ein Geldstück aus de Jackentasche und
warf es der einen Juanita zu. Es fiel auf das Pflaster und rollte
fort. Gleich waren vier, fünf Jungen da, die griffen danach.
Und die eine Juanita balgte sich mit den Jungen, und die andere
Juanita saß im Auto und sah zu und lachte.
Aber jetzt war die
eine Juanita nicht mehr müde, und der Zorn machte sie stark.
Sie packte das Geldstück, sie jagte die Jungen weg.
Dann lief sie zum
Auto. Sie schrie: "Lach nur, lach nur!" Und sie warf
der anderen Juanita, der feinen, schönen, stolzen Juanita,
das harte Geldstück mitten ins Gesicht. Das
gab nur einen kleinen Kratzer über der Nase. Aber es
blutete, es blutete! Und sie weinte, die andere Juanita.
Die eine Juanita
lief weg, und niemand holte sie ein, der junge Herr Alonso nicht,
und nicht der Polizist, den sie hinter ihr herschickten.
Am Abend sagte sie
zu der Großmutter Maria: "Vielleicht gehe ich doch in
die Schule!"
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